Rückabwicklung von Millionen von Lebensversicherungsverträgen möglich? EuGH-Urteil vom 19.12.2013

Den Lebensversicherern in Deutschland droht Ungemach. Dies liegt maßgeblich an einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 19.12.2013, mit dem eine nationale Gesetzesvorschrift aus dem Vertragsversicherungsgesetz, die bis zum 31.12.2007 in Deutschland galt, als mit europäischem Recht unvereinbar und damit als unwirksam beurteilte.

Die Entscheidung kann Auswirkungen auf Millionen von Versicherungsverträgen haben.

Der dem konkreten Streitfall zugrunde liegende Sachverhalt begann recht unscheinbar in München. Im Jahr 1998 schloss der in München ansässige Kläger bei der Allianz Versicherung einen Rentenversicherungsvertrag ab. Der Vertrag sah vor, dass der Kläger der Allianz monatlich Versicherungsbeiträge bezahlen sollte, im Gegenzug sollte die Versicherung dem Versicherungsnehmer ab dem 01.12.2011 eine Rente bezahlen.

Dieser Vertrag wurde von dem Versicherungsnehmer auch bis zum Jahr 2007 anstandslos erfüllt. Am 01.Juni 2007 kündigte der Versicherungsnehmer jedoch den Vertrag mit Wirkung zum 01.September 2007. Gleichzeitig forderte er die Allianz Versicherung auf, ihm den Gesamtbetrag der Versicherungsprämien zuzüglich zwischenzeitlich angefallener Zinsen auszuzahlen.

Dies tat die Allianz jedoch nicht, sondern überwies dem Versicherungsnehmer mit dem so genannten Rückkaufswert einen Betrag, der unter dem von dem Versicherungsnehmer geforderten lag.

Der Versicherungsnehmer ließ der Allianz dann am 31. März 2008 ein Schreiben zukommen, das bei der Allianz wahrscheinlich zunächst nur Verwunderung ausgelöst hat. Der Versicherungsnehmer nahm in diesem Schreiben nämlich auf einen § 5a VVG (Versicherungsvertragsgesetz) Bezug und machte im Hinblick auf den im Jahr 1998 abgeschlossenen Versicherungsvertrag von seinem Widerrufsrecht Gebrauch.

§ 5 a VVG a.F. – Das Widerspruchsrecht des Versicherungsnehmers

Diese nationale Gesetzesvorschrift in § 5a VVG a.F. ist seit dem 01.01.2008 nicht mehr in Kraft, gilt aber gleichwohl für einen im Jahr 1998 abgeschlossenen Versicherungsvertrag und spielt bei der jetzt ergangenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes die entscheidende Rolle.

Dieser § 5 a VVG a.F. regelte nämlich die näheren Umstände des 14-tägigen Widerspruchsrechtes des Versicherungsnehmers bei Abschluss eines Versicherungsvertrages. Mit einem Widerspruch sollte sich der Versicherungsnehmer wieder von dem bereits wirksam abgeschlossenen Vertrag lösen können.

Dieses Widerspruchsrecht sollte der Versicherungsnehmer, so sah es der inzwischen außer Kraft gesetzte § 5a VVG a.F. vor, zeitlich nicht unbegrenzt haben. Zunächst einmal sollte der Versicherungsnehmer sein Widerspruchsrecht nur 14 Tage nach Vorliegen des maßgeblichen Versicherungsscheins, der Versicherungsbedingungen und der weiteren für den Vertragsinhalt maßgeblichen Verbraucherinformation ausüben können.

§ 5a Abs. 2 VVG a.F. schrieb weiter vor, dass die 14-tägige Widerspruchsfrist zugunsten des Versicherungsnehmers nur dann zu laufen beginnt, wenn dem Versicherungsnehmer der Versicherungsschein und alle weiteren nach § 5a Abs. 1 VVG a.F. erforderlichen Unterlagen vorliegen und der Versicherungsnehmer vom Versicherungsunternehmen bei Aushändigung des Versicherungsscheins schriftlich, in drucktechnisch deutlicher Form über das Widerspruchsrecht, den Fristbeginn und über die Dauer der Frist belehrt worden ist.

Gesetzliche Regelung: Widerspruchrecht maximal für ein Jahr

Weiter enthielt der inzwischen außer Kraft gesetzte § 5a Abs. 2 VVG a.F. eine Regelung, die die Allianz Versicherung wahrscheinlich in Sicherheit gewogen hat. In § 5a Abs. 2 VVG a.F. bestimmte das Gesetz nämlich mit aller Deutlichkeit, dass „das Recht (des (Versicherungsnehmers) zum Widerspruch jedoch ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie“ erlischt.

In Anbetracht dieser für den streitig gewordenen Versicherungsvertrag geltenden gesetzlichen Bestimmung konnte und wollte die Allianz mit dem im Jahr 2008 erklärten Widerruf eines Versicherungsvertrages aus dem Jahr 1998 nicht sonderlich viel anfangen. Sie beharrte gegenüber dem Versicherungsnehmer darauf, dass sein Widerspruch weit nach Ablauf der Jahresfrist und damit viel zu spät erfolgt sei. Zu einer Auszahlung der gesamten Prämien zzgl. Zinsen sah sich die Allianz daher nicht veranlasst.

Bundesgerichtshof legt die Angelegenheit dem EuGH vor

Diese Rechtsauffassung wird die Allianz Versicherung jetzt aber allem Anschein nach korrigieren müssen. Der Versicherungsnehmer bemühte nämlich die deutschen Gerichte und wollte sich mit dem Rückkaufswert der Versicherung nicht zufrieden geben. Er wollte den vollen Betrag nebst Zinsen von der Allianz.

Landgericht und Oberlandesgericht gaben der Allianz Versicherung in erster und zweiter Instanz noch Recht und wiesen die vom Versicherungsnehmer erhobene Klage ab. Der Bundesgerichtshof als Revisionsinstanz hatte aber offenbar Bedenken. Insbesondere zog der BGH in Erwägung, dass die in § 5a VVG a.F. vorgesehene Maximalfrist von einem Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie gegen europarechtliche Bestimmungen verstoßen könnte.

Diese Frage legte der BGH dann auch dem EuGH mit der Bitte um Entscheidung vor.

Und das jetzt vorliegende Urteil des EuGH dürfte der Versicherungsbranche schlaflose Nächte bereiten.

Der Europäische Gerichtshof stellte in seiner Entscheidung nämlich mit hinreichender Deutlichkeit folgendes fest:

Übersetzt bedeutet dieses Urteil, dass Versicherungsnehmer ihre Lebensversicherungsverträge, die sie zwischen 1995 und 2007 abgeschlossen haben, dann rückgängig und sämtliche Prämien nebst Zinsen fordern können, wenn sie über ihr Rücktrittsrecht nicht ordnungsgemäß belehrt worden sind.

Wer muss ordnungsgemäße Belehrung über Rücktrittsrecht beweisen?

Es kommt demnach entscheidend darauf an, ob der Versicherungsnehmer im Zusammenhang mit dem Abschluss seines Vertrages von der Versicherung ordnungsgemäß über sein Rücktrittsrecht belehrt worden ist. Die Frage, wer im Streitfall die ordnungsgemäße Belehrung zu beweisen hat, ist relativ eindeutig. Hier ordnet § 5a Abs. 2 VVG a.F. nämlich an:

Übliches Policenmodell der Versicherungswirtschaft – Nachweis der ordnungsgemäßen Belehrung dürfte schwer fallen

Wenn man bedenkt, dass vor der Änderung des VVG Anfang 2008 das so genannte Policenmodell bei Abschluss von Versicherungsverträgen vorherrschte, dürfte für die Versicherungen der Nachweis im Einzelfall schwer fallen, dass man ordnungsgemäß aufgeklärt hat. Die maßgeblichen Informationen unter anderem zum Widerspruchsrecht erreichten den Versicherungsnehmer beim Policenmodell nämlich regelmäßig erst mit der Vertragsannahme durch den Versicherer. Gemeinsam mit der Versicherungspolice wurde dem Versicherungsnehmer alle gesetzlich vorgeschriebenen Informationen, so auch zu seinem Widerspruchsrecht, übermittelt. Eine Bestätigung, wonach der Versicherungsnehmer auch tatsächlich alle Unterlagen und Informationen erhalten hat, sah das Policenmodell regelmäßig nicht vor.

Wenn jetzt im Einzelfall ein Versicherungsnehmer bestreitet, die Informationen überhaupt erhalten zu haben, dürfte den Versicherungsunternehmen der Gegenbeweis regelmäßig nicht gelingen.

Auswirkungen des EuGH-Urteils

Allem Anschein nach werden die Auswirkungen des EuGH-Urteils drastisch sein. Bereits im gerichtlichen Verfahren wies die beklagte Allianz Versicherung darauf hin, dass von dem Urteil deutschlandweit rund 108 Mio. Lebensversicherungsverträge mit einem Gesamtvolumen von über 400 (!) Milliarden Euro betroffen wären. All diese Verträge sind in dem fraglichen Zeitraum zwischen 1995 und 2007 abgeschlossen worden und könnten jetzt von den Versicherungsnehmern unter Hinweis auf das EuGH-Urteil rückabgewickelt werden, eine fehlende Belehrung des Versicherungsnehmers bei Vertragsabschluss vorausgesetzt.

Die Allianz Versicherung selber sieht alleine für ihre Gesellschaft ein kritisches Volumen von 62 Milliarden Euro.

Schadensersatz für Versicherungsunternehmen wegen legislativem Unrecht?

Nicht überliefert ist, ob die Versicherungsunternehmen bereits darüber nachdenken, wegen der heraufziehenden Probleme den deutschen Staat (und damit am Ende den Steuerzahler) in Haftung zu nehmen.

Auslöser der Probleme war ja eine nicht europarechtskonforme Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Recht durch den deutschen Gesetzgeber. Wäre § 5a VVG a.F. vom deutschen Gesetzgeber von vornherein europarechtskonform ausgestaltet gewesen, säße die Versicherungsbranche jetzt nicht auf Millionen von tickenden Lebensversicherungsverträgen, von denen sie nicht weiß, ob und wann sie hochgehen.

Update 07. Mai 2014: Der BGH folgt dem EuGH

Der Bundesgerichtshof ist jetzt mit Urteil vom 07.05.2014 dem Urteil des EuGH, den er selber angerufen hatte, gefolgt. Damit ist dem Grunde nach der Weg frei für einen auch noch nach Jahren erklärten Rücktritt von Lebensversicherungsverträgen.

Einzelheiten muss noch das Oberlandesgericht Stuttgart klären, an das der BGH den Fall zurückgegeben hat.